Vergeben
Wir glauben wir vergeben, doch vergessen wir. Wir verdrängen, wir übermalen, wir streichen Dinge und Erlebnisse aus unserem Gedächtnis um uns nicht weiter damit beschäftigen zu müssen und verstricken uns so selbst in der großen Lüge des "Vergeben und Vergessen". Wir alle kennen es, haben es unzählige Male gesagt und gehört bekommen, aber wissen wir wirklich wann wir vergeben und wann wir denken zu vergeben, doch tatsächlich nur vergessen?
Diese Frage bringt mich in meiner Zeit weit zurück, und obwohl ich eine große Befürworterin der Gegenwart bin, finde ich, dass die Fähigkeit im Moment präsent zu sein, darin liegt, mit der Vergangenheit im Reinen zu sein. Also ja, oftmals ist es nötig ein weiteres Mal zehn kleine Schritte zurück zu gehen, um dann einen großen gigantischen Schritt in die Gegenwart wagen zu können.
Er zündet sich seine Zigarette an. Mir wird bewusst, dass mir nur 6 wertvolle Minuten zur Verfügung stehen, um ihm meinen Schmerz zu übermitteln und ihn von unserer schon verblassten aber doch noch präsenten Freundschaft zu überzeugen. Die Hoffnung stirbt zuletzt und die Willenskraft scheint stärker als je zuvor. Dies ist meine letzte Chance. Ich starte das Gespräch mit der üblichen Frage nach seinem Wohlbefinden. Die Antwort wirkt abweisend und einseitig, trotzdem denke ich zuversichtlich. Diese Reise verbindet Hass, Liebe, Sehnsucht und Freundschaft und ich weiß, dass es keinen besseren Ort dafür gibt, als diese bezaubernde spanische Küste. Wir waren beide mit Erwartungen in das Flugzeug gestiegen, nur war uns beiden der Wendepunkt eines eventuellen Gespräches nicht bewusst. Als ich mir überlege wie ich dieses Gespräch Best möglichst aufrechterhalten könnte, fragt er mich ohne zu zögern, warum ich doch mitgeflogen sei. Seine Frage allerdings wandelt sich zu einer rhetorischen Frage um. Ich denke, er erwartet sich keine Antwort, sondern will somit ein Gefühl in mir entfachen. Ein Gefühl von Schwäche und Einsamkeit. Und genau das empfinde ich im Moment. Mein Körper steht still, meine Gedanken laufen Marathon. Um mich entspannter zu präsentieren als ich mich fühle, nehme ich einen Zug meiner Zigarette. Er beachtet mich kaum. Sein Blick wendet sich eher in Richtung Meer. Das Spiegeln der Lichter der gegenüberliegenden Stadt lässt die angespannte Atmosphäre etwas harmonischer wirken. Er merkt, dass sich meine Augen nur ihm widmen. Während ich ihm anhand einer Lüge antworte, bemerke ich, dass sich bereits ein Drittel seiner Zigarette in Luft aufgelöst hat. Ich komme auf den Punkt und warte auf seine Reaktion. Immer noch widmet er seine Aufmerksamkeit mehr dem Rauschen des Meeres. Seine Augen weichen nicht vom Horizont. Immer noch kalt - wie die Nächte der Wüste - gibt er mir ein einseitiges OK und verständigt mir somit, dass das nicht die erwartete Antwort ist. Als er mir nach weiteren 30 Sekunden des Schweigens die Frage stellt, wie es mir geht, werden Erinnerung aufgeweckt. Meine Gedankenreise starten im tiefsten meines Gehirns – vor fünf Jahren. Als Neuling in der Stadt lernte ich ihn über eine Bekannte kennen. Seit unserem ersten Gespräch führte nichts mehr aneinander vorbei. Wir verbrachten unendlich viele wertvolle Tage und Nächte miteinander. Gefüllt mit Gesprächen, Gelächter, Geheimnissen und Tränen. Tränen vor Freunde, Tränen vor Traurigkeit. In den dunkelsten Wochen war er die Hand die mich vor dem Ertrinken bewahrte. Meine Gedanken werden innerhalb Tausendstel Sekunden intensiver und ich lande plötzlich und unerwartet in der Nacht in welcher wir uns näher nicht sein hätten können. Wir berührten, küssten und vertrauten uns und unsere Körper an. Jede seine Berührungen spüre ich noch ein weiteres Mal, als ich ihm beim Zug seiner Zigarette beobachte. Das Abäschern reist mich zurück auf den Boden der Realität, auf den spanischen Fensterbalkon, den wir uns nun schon seit 4 Minuten teilen. Die Schwäche überkommt mich und so gestehe ich ihm meine derzeitigen Gefühle. Wie schlecht es mir geht, wie sehr ich ihn und die Zeit mit ihm vermissen, lasse ich ihn aus meiner Antwort erfahren. In diesem Moment vergesse ich alles um mich herum. Das rauschende Meer, der spanische Flair, Bekannte, welche im Raum hinter uns ihren Rausch aus tanzen. Ich vergesse sogar meinen Rausch, der mir ursprünglich den Mut für dieses Gespräch gab. Es ist das Erste seit fünf Monate. Fünf Monate ohne jeglichen Kontakt. Keine Anrufe, keine Nachrichten, kein „Hallo“ am Gang unserer Schule. Wir behandeln uns wie Luft. Luft die man nicht wahrnimmt, aber braucht um zu existieren. Die Zigarette kommt dem Ende nahe, genau wie unsere Freundschaft. Mit den Sekunden wird mir immer bewusster, welch ein Fehler dieses Gespräch ist. Zu hoffen, es gäbe was, woran zu halten ist, nach all dem was in dem vergangenen Sommer geschah, schien mir plötzlich leichtsinniger als je zuvor. Ich merke wie ich vor Angst und Selbstscham schrumpfe. Ich bekomme ein Gefühl, welches mir aus unergründlicher Weiße bekannter war, als ich dachte. Ich sehe in einem imaginären Spiegel mein 12-jähriges Ich. Ich erkenne Hoffnung, Ängstlichkeit, Wut und Naivität, als ich mich mustere. Noch nie gab mir ein Mensch solch ein minderwertiges Gefühl. Ob es für ihn eine Art des Triumphes ist, mich in dieser Lage zu sehen? In diesen bereits 5,5 Minuten kommen mehr Emotionen hoch, als ich je für möglich empfunden hätte. Wie schafft es ein Mensch anhand einer einfachen, unbeabsichtigten und unüberlegten Gestik, deine ganze Persönlichkeit in Frage zu stellen? Selbstzweifel steigen in mir auf. Die Frage ob ich für alles Vorgefallene Verantwortung übernehme, stellen mir meine Gedanken. In der Hoffnung, es in seinem Ausdruck zu erkennen, sehe ich von meiner fast fertig gerauchten Zigarette auf. Mir wird langsam bewusst, dass ich mich der letzten gemeinsamen Minute nähere. Mit dem Tabak unserer Zigaretten lösen sich auch 524 160 Minuten einer Beziehung, die ich niemals enden lassen wollte, auf. Ich fühle mich in seinen Augen verloren, als ich auf seine Reaktion warte. Nichts. Nichts, außer das Fallen seines Zigarettenstummels, das Fallen von fünf Jahre Freundschaft und einem „Das dachte ich mir schon!“
Der eine oder andere Leser mag nun das Gefühl bekommen, zu wissen um was es geht. Lasst es mich nun trotzdem erläutern, denn es geht dabei nicht nur um ein persönlichen Erlebnis, mehr handelt und veranschaulicht es meine Findung und Erfahrung von Vergebung.
Diese kurze Geschichte verfasste ich vor drei Jahren. Einige Leser erkannten das wahre Geschehen, andere fühlten sich durch die Worte berührt oder inspiriert. Für mich war das Verfassen, Veröffentlichen und Annehmen dieser Geschehnisse einer der ersten bewussten Erfahrungen mit Vergebung. Es war wohl einer der schmerzhaftesten Zeiten und das Gefühl, der Unruhe nicht entkommen zu können, fand ich jeden Morgen als ich meine Augen öffnete und aus meinem Schlaf erwachte. Eines Tages entschied ich mich dazu, meine Gefühle, meine Angst und die Trauer die ich empfand nieder zu schreiben, und so entstand diese wertvolle Kurzgeschichte. Ich fühlte mich frei und empfand für einige Zeit das Gefühl von welchem ich dachte es sei Vergebung. Jedes Gespräch, das von meinem Erlebnis handelte, blockte ich vor anderen mit einem selbstbewussten "Vergeben und Vergessen" ab. Mein Umfeld nahm das recht schnell auf und ich fühlte eine Art von Stolz, mich in diesem Stadium des Vergebens zu sehen. Doch kaum entkam ich diesem komfortablen Umfeld, bemerkte ich, dass ich zwar vergessen hatte, was genau geschah und welche Emotionen da waren, doch diese "Vergebung" fühlte sich nicht wie Erleichterung und Liebe an. Es tat immer noch weh, besonders sobald ich meiner Seele erlaubte, eine Reise in die Vergangenheit anzutreten. Ich erkannte dadurch auch, dass ich mit diesen Gedanken und Gefühlen, der Vergangenheit Platz schenke und der Gegenwart somit etwas entziehe. In meinem Verhalten fiel mir in den kommenden Monat sehr auf, dass ich zu sehr probierte, die Vergangenheit durch präsente Taten zu ändern. Mein innerliches Verlangen zu vergessen war größer und stärker als das zu vergeben. Ich akzeptierte doch noch nicht komplett, was geschah und probierte alles gegenwärtige zu kontrollieren.
Aber wie kam ich nun zu einem bewussten Vergeben?
Ich denke desto detaillierter ich probiere es zu beschreiben, umso mehr verirrt ihr euch in einem Gedankenspiel und Fragen eurer selbst. Ich würde euch dadurch die Möglichkeit geben, eure individuellen Ereignisse mit meinen oder anderen zu vergleichen, und wenn es eine Sache gibt, die uns allen bewusst sein sollte, dann ist es die Tatsache, dass Dinge, Situationen und Sich selbst mit anderen zu vergleichen, zu nichts als nur noch mehr Vergleichen und offenen Fragen führt. Wir sind alle individuelle Menschen mit individuellen Erlebnissen und Gefühlen: Erscheint plötzlich logisch, sich doch nicht mit anderen zu vergleichen, oder?
Jemand, den ich im Laufe meiner aktuellen Reise durch Australien kennengelernt habe, erlebt gerade eine Zeit, in der Vergebung die Medizin ist, die es ihm ermöglicht, wieder Glück zu empfinden. Übrigens, wenn ich von Vergebung rede, kann das Vergebung gegenüber jemanden, dir selbst oder einer Situation sein, im besten Falle all das eben genannte.
Als er mich kurz über seine derzeitigen Gefühle aufklärte, fühlte ich mich, als würde ein höheres Ich, eine höhere Energie zu mir sprechen und ohne zu überlegen ob es seiner Situation wirklich entgegenkommen mag, schrieb ich folgendes:
"You are the only person who allows certain situations and feelings to have the power to destroy yourself. Don't try to fight against it, but try to take it as it comes. Because with acceptance there comes forgiveness, and with forgiveness comes peace and in the end there will be lots of love waiting for you if you live within peace instead of fear, anger or hate."
Situationen und Geschehnisse, die unser Vergeben benötigen um uns wie eine Pflanze wachsen und blühen zu lassen, sind meist sehr schmerzvolle, mit Hass oder Trauer gefüllte Momente. Genau das ist, was Vergebung unbegreiflich schwer macht, egal wie sehr wir vom Gegenteil überzeugt sind. Denken wir genauer und rationaler darüber nach, ergibt alles plötzlich einen Sinn. Natürlich wollen wir keinen Hass, keine Wut oder Trauer empfinden, deswegen kämpfen wir dagegen an. Doch kämpfen wir nicht nur gegen die Emotion, sondern auch gegen den Moment und all die Ereignisse die mit ihm kommen, haben wir bereits verloren und sind der Vergebung ferner als näher. Fehler sind keine Fehler, wenn du sie an- anstatt mitnimmst, Schmerz fühlt sich nicht schmerzhaft an, wenn du ihn zulässt, nicht bekämpfst. Gefühle sind hier um sie zu durchleben, sie zu spüren. Wenn wir die Situation, wie auch immer sie aussehen mag, akzeptieren und annehmen mit all den Folgen und Emotionen, belohnen wir uns damit selbst. Denn wir erlauben dem Universum, Gott, einer höheren Energie und nicht zu letzt uns selbst, das Leben anzunehmen, zu leben und sind somit bereit für alles was noch kommen mag.
Seit meiner ersten bewussten Vergebung, merke ich, wie ich aus jeder noch so unangenehmen und unerwünschten Situation etwas machen kann, dass sich so viel besser als "Richtig" oder "Falsch" anfühlt. Mir fällt es plötzlich nicht mehr schwer, das Gute in all dem Bösen zu sehen, die Hoffnung nicht sinken zu lassen, sei das Gewässer noch so tief und Liebe so intensiv in jeder Begegnung und jedem Moment zu fühlen. Hass und Wut hat plötzlich keinen Platz mehr und du erlaubst deiner Seele ein Stück Vergangenheit zu erleben mit dem Bewusstsein es in eine positive Gegenwart zu verwandeln. Wie bei allen Dingen gibt es kein "Gut" oder "Schlecht", es gibt nur dich, dein Bewusstsein und deine Intention, die du mit dir bringst.
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