So fern und doch so nah
Das Wasser spiegelt die Schönheit ihrer inneren Ruhe. Im Funkeln der Sonne treibt sie an der Oberfläche des unendlichen Ozeans entlang. Zeit, was soll das sein, fragt sie sich. Das Wasser und seine Energie zu spüren, raubt ihr sämtliches Gefühl von Zeit. Außen steht alles still, doch innen steht alles Kopf. So viel Eindrücke, so viel Leben. Niemals dachte sie, dieses Gefühl erleben zu dürfen, solch einen Moment durchleben zu können. Sie schließt die Augen, streckt sich entlang ihres Boards und tankt die letzten Sonnenstrahlen dieses Tages. Mit ihren Fingerspitzen streichelt sie die Wasseroberfläche und denkt dabei an ihr Daheim. So fern, doch in diesem Augenblick emotional näher als zuvor. Schon verwunderlich, denkt sie sich. Nie war sie weiter weg und fühlte sich dabei näher an ihrer Selbst, ihren Liebsten und dem Wunder Leben. Es ist die Distanz, die es ihr erlaubt, Nähe zu fühlen. Es ist die Stille, die es ihr ermöglicht, den inneren Lärm wahrzunehmen. Und es ist die Einsamkeit, die nur ein weiteres Mal veranschaulicht, was Gemeinschaft wirklich bedeutet.
Seit Monaten nun, lebt sie allein, lernt Menschen kennen und die Natur mehr schätzen. Warum braucht es all diese Umstände, all diese Änderungen, um mehr zu sehen und dabei weniger zu haben? Eine nach der nächsten Frage kreist wie ein Fisch im Aquarium durch ihren Kopf. Sie verliert sich im Gewässer der Vergangenheit und findet sich plötzlich in Zeiten, von welchen sie schon vor langer Zeit Abschied genommen hatte. Vielleicht war das die Antwort. All der Schmerz und Verlust führt zu so viel Glück und persönlichen und intellektuellen Wachstum. Plötzlich sieht sie das Ende einer Beziehung und den Verlust ihrer ersten Liebe als etwas Erfreuliches. Und auch wenn sie noch von seinem Lächeln träumt und den Blick, den er ihr schenkte, sobald sie sich liebevoll an ihn schmiegte, fühlt es sich nun wie pures Schicksal und Glück an, hier und allein zu sein. Die Tagträumereien sind nun keine hoffnungslosen, mit negativer Energie und Reue gefüllten. Eher sind es Momente, die ihr nun helfen den Weg entlang zu gehen ohne zu stehen und nach hinten zu sehen.
Einige Personen werden wohl nie ihren Kopf verlassen. Doch statt unerwünschten Gästen, sieht sie diese nun als Teil ihrer selbst und etwas das ihr hilft, sich zu entfalten. In jeder noch so unangenehmen, unerwarteten Situation, sieht sie nicht die Dunkelheit, sondern das Licht.
Aus dem nichts reißt sie etwas aus ihrer Gedankenreise. Sie öffnet die Augen, sieht sich um und dabei in die Tiefe des Meeres, das an diesem Tag so klar ist, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Irgendetwas muss hier sein. Die unregelmäßige Bewegung, die sie im Wasser spürte, war nicht etwa ein Energiestoß des Ozeans, es war ein Leben, da ist sie sich sicher. Sie blickt sich weiter um und durch die Panik, die in ihrem Unterbewussten entstand, vergisst sie auf all das, was sie gerade durchlebte und dachte. Nun denkt sie nicht mehr an ihre Liebe, verlorene Freunde oder entfernte Familie. Die einzigen Bilder, die ihr ihr Kopf nun schenkt, sind die von drei Meter langen Haien. Der Angst doch sehr nah, schafft sie es, ihr keinen Platz zu geben und sammelt die Quellen ihrer inneren Ruhe und Gelassenheit. Sie sammelt die Gewissheit, dass ihr das Leben das gibt, was es gerade benötigt, und sei das ein drei Meter Hai, ist es einer aus einem bestimmten Grund, nicht etwa weil sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war. Immer noch gestreckt liegend am Board will sie ihre Augen wieder schließen und sich ein weiteres Mal in der Stille und Unendlichkeit des Lebens verirren, als plötzlich das Schicksal zuschlug. Ein kurzer Schreck, ein schnelles Aufrichten und siehe da, eine Familie aus Delfinen kreuzt ihren Weg und wünscht ihr einen wundervollen Tag. Sie kann ihren Augen nicht trauen. Passiert das wirklich, fragt sie sich und sieht dabei all den Delfinen zu, wie sie den Moment des Lebens auskosten, mit jedem einzelnen Sprung aus dem Wasser und jedem darauffolgenden Tauchgang durch die Welten der Meere. Seit sie surft, war das einer der Momente, von denen sie nachts und tagsüber zu träumen wagte. Sie kann es kaum glauben, was ihr das Leben in diesem Moment schenkte. Immer noch springen sämtliche Delfine aus und in den Ozean. Ihr Kopf auf Energiesparmodus, doch ihr Herz auf Hochtouren. Nicht nur der Natur, den Tieren und sich selbst und dem Leben fühlt sie sich nun näher. Auch kann sie die Freude und das Staunen ihrer Mutter fühlen, als wäre diese mit ihr. Eine Träne baut sich in ihren Drüsen auf und macht sich im Bauchgefühl bemerkbar. Aber sie weiß, dies wird eine, gefüllt mit so viel Liebe und Dankbarkeit, sein. Weinen fühlt sich nicht mehr wie eine Last an, sondern wie eine Möglichkeit sich und seinen Gefühlen näher zu kommen. Mit einer Lebensfreude, die sie so noch nie spüren durfte, nimmt sie all die Emotionen an, schließt ihre Augen und schickt all ihre Energie auf eine Reise nach Hause. Mit ihrer Hand auf der Oberfläche des Wassers, bemerkt sie eine noch größere Energie aus der Tiefe des Meeres auf sich zukommen. Eine Welle, so perfekt glänzend groß, wie sie sie nur aus ihren Träumen kannte. Ohne zu zögern, paddelt sie los. Gefüllt mit all der Kraft die ihr noch bleibt, kommt sie dem Moment näher. Fixiert auf die Energie der Welle, schafft sie es, zu stehen und kann nun die Welt aus einem weiteren Winkel sehen. Der Blick weit voraus, doch die Seele verankert im Jetzt. Mit den Sonnenstrahlen auf der salzigen Haut und einem Lächeln im Gesicht, reitet sie ihre erste lange Welle. „Surf für mich mit!“, hört sie ihren Vater sagen und war sich nun sicher, dass auch er gerade spüren kann, was sie erlebt. Das ist das Leben, so schön und schmerzhaft zu gleich, ein pures Wunder einfach zu sein.
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